Kontiki Reisen
Tromsø, 69° 38’ 48” Sie wartet mit der unerschütterlichen Eleganz einer Königin. God aften, guten Nachmittag, MS Nordnorge! An diesem späten Samstagnachmittag Ende Januar entere ich das legen- däre Hurtigruten-Schiff im Hafen von Tromsø, der nördlichsten 1 Universitätsstadt der Welt, fast 400 Kilometer oberhalb des Polar- kreises. Es wird mein schwimmendes Zuhause bis nach Kirkenes sein, dem Wendepunkt nahe der russischen Grenze. Schnell den Rollkoffer die Rampe hochziehen und dann verblüfft stehen blei- ben: Holzhocker mit Fell und helle Böden erwarten die Passagiere, alles wirkt freundlich, skandinavisch leicht und frisch. Dieser Ein- druck setzt sich fort auf dem Panoramadeck, im Speisesaal, im Bistro, im Vortragsraum – moderne Sessel, Tische und Stühle im nordischen Stil geben dem Innenleben des Postschiffs ein junges Gesicht. An die Stelle von behäbiger Nostalgie ist lockere Leich- tigkeit getreten, nicht nur bei der MS Nordnorge – sie ist eines der fünf Schiffe der Hurtigruten-Flotte im neuen Design. Altmodisch ist hier gar nichts mehr – abgesehen vom Signal, das unköniglich laut die Abfahrt verkündet, pünktlich um 18.30 Uhr. An Bord, Aussendeck 5 Avgang! Immer mehr Passagiere drängen sich aufs Aussendeck. Am Quai stehen Leute und winken, wir winken zurück, Fotoap- 2 parate klicken, man hört Rufe und Gelächter, und schon gleitet das Schiff gemächlich aus dem Hafen und nimmt Kurs Richtung Norden. Tromsø, auch Pforte des Eismeeres genannt, entfernt sich immer weiter, die Lichter der Stadt mit ihren 80 000 Einwohnern verschwimmen. Der Wind frischt auf, verjagt die Wolken, Fetzen des dunklen Nachthimmels sind zu sehen, und da!, erste Sterne e rstrahlen. Schwarz und geheimnisvoll liegt der Nordatlantik vor uns. Leise klatschen die Wellen an den Bug, weisse Gischt spritzt hoch, als das Schiff mit 15 Knoten in der Stunde rhythmisch durchs Wasser pflügt, dem Ende von Europa entgegen. Mir ist, als hätte ich eine Zeitreise in eine andere Welt angetreten. Bin ich tatsäch- lich erst heute Vormittag in Zürich in den Flieger gestiegen, um nach nicht einmal vier Stunden Direktflug mitten in diesem pola- ren Märchen zu landen? 3 1) Bereit für den Norden: die MS Nordnorge am Hafen von Tromsø. 2) Täglich kommen die Spezialitäten des Streckenabschnitts auf den Teller, hier Joghurtkuchen mit Sanddorn. 3) Entspannung pur: Sich zwischen Himmel und Meer dem Rhythmus des Schiffes hingeben. «Meine Damen und Herren, es sind Nordlichter zu sehen.» An Bord, im Speisesaal Im Speisesaal wird am fünften Tag der nordgehenden Strecke Bergen–Kirkenes erst in Kräutern gebackener Stockfisch serviert, hernach arktischer Saibling mit Rahmkohl, Kartoffeln und Schnittlauchemulsion, alles frisch angeliefert von lokalen Produzenten. «Lecker, nicht?», fragt der Kellner verschwörerisch und flüstert, während er den Weisswein einschenkt: «Mein Lieblingsessen!» Die Atmosphäre ist entspannt und ungezwungen, im Sakko oder Abendkleid tafelt hier niemand, und das Ambiente e rinnert an ein trendiges nordisches Café. Als «mein» Kellner den Teller mit Røros-Joghurtkuchen mit Sanddorn bringt, ertönt die Durchsage aus dem Lautsprecher: «Meine Damen und Herren, es sind Nordlichter zu sehen.» Also Dessertgabel wieder hinlegen, in die Jacke schlüpfen, nach Mütze und Handschuhen greifen und raus aufs Aussendeck 5. «Da hinten!», flüstert jemand, und tatsächlich: Am Himmel hat sich ein weisser Fleck gebildet, jetzt nimmt er einen Grünton an, verfärbt sich mehr und mehr, und nun beginnt dieser Fleck zu tanzen. Es sieht aus, als streckte das 10 Kontiki Reisen
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